Genaugenommen ist „Das Eisenbahngleichnis“ von Erich Kästner eine Parabel. Er schrieb es 1932 für das Kabarett und das Gedicht zählt heute zu den bekannteren Gedichten von Erich Kästner.
Das Eisenbahngleichnis
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug
und keiner weiß, wie weit.
Ein Nachbar schläft; ein andrer klagt;
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.
Wir packen aus, wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.
Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.
Ein Kind steigt aus, die Mutter schreit
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und keiner weiß, warum.
Die erste Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr
Die Mehrheit sitzt auf Holz
Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.

Hintergrundwissen zum Gedicht „Das Eisenbahngleichnis“

Kästner vergleicht das Leben und Zusammenleben der Menschen mit einer gemeinsamen Zugfahrt an ein unbekanntes, bzw. nichtvorhandenes Ziel. Schließlich steigen nur die Toten aus. Es werden auch Klassenunterschiede berücksichtigt (Die Mehrheit sitzt auf Holz. Auf Holz saß zur Entstehungszeit auf Bahnreisen die Zweite Klasse – die Erste Klasse sei dabei laut Kästner fast leer) oder soziale Problemfelder, wie eine unglückliche Lebensplanung (wir sitzen alle im gleichen Zug/und viele im falschen Coupé) in das Gleichnis mit aufgenommen. Das Gedicht ist exemplarisch für die in seinen Werken für Erwachsene häufig recht pessimistische Weltsicht des erfolgreichen Kinderbuchautors.
Die Eisenbahn ist hier als Symbol von der eingerichteten Welt (der Gleichförmigkeit, der Unveränderlichkeit und Sinnlosigkeit), die zwar verbesserungsbedürftig ist, aber kaum verbessert werden kann, zu sehen. Es ist somit eine pessimistischere Sichtweise als die des satirischen Romans von Voltaire Candide oder der Optimismus (1).
„Der Schaffner schaut zur Tür herein- und lächelt vor sich hin. Auch er weiß nicht, wohin er will“, womit auch der Schuldige schuldlos wird, da sich die Entwicklung ohne menschliches Eingreifen vollzieht und ohne Politik (1).
Literaturangaben:
1) Bernhardt, Rüdiger: Königs Erläuterungen Kästner Das lyrische Schaffen, Hollfeld, 2010, S. 153–154
Seite „Das Eisenbahngleichnis“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. Juli 2021, 18:56 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Das_Eisenbahngleichnis&oldid=213654104 (Abgerufen: 14. November 2021, 14:16 UTC)